Eschatologie und Zeit – Über den Zusammenhang von Schöpfung und Geburt und ihr Verhältnis zur Hoffnung in Römer 8,18-25. Exegetische Analyse und systematisch-theologische Reflexion
- Eschatologie und Zeit – Über den Zusammenhang von Schöpfung und Geburt und ihr Verhältnis zur Hoffnung in Römer 8,18-25. Exegetische Analyse und systematisch-theologische Reflexion – eine Zusammenfassung
Was bedeutet es, Schöpfung neu zu denken?
Überlegen Sie einmal? wie würden Sie das angehen? Worauf wäre zu achten? Wo anzuknüpfen?
Am Anfang meiner Arbeit steht eine unerwartete Begegnung, die ich vor einiger Zeit auf dem Weg zum Zug im Bonner Hauptbahnhof machte. Auf einer wechselnden Werbeanzeige, die dem vorbeieilenden Bahnhofspublikum für gewöhnlich die besten Sparangebote der Woche präsentiert, tauchte dieses für Bahnhofsunterführungen untypische Plakat auf. Im Rahmen des Beethovenfestes soll Joseph Haydns Oratorium Schöpfung, das die Schöpfungsgeschichte der Genesis musikalisch erzählt, aufgeführt werden. Diese eigentümliche Begegnung mit dem Plakat Schöpfung Neu Denken vermag es, viele Aspekte meiner Beschäftigung mit Römer 8,18-25 zur Darstellung zu bringen. In großen weißen Lettern springt dem hastigen Zugreisenden das Wort Schöpfung entgegen. Vor schwarzem Hintergrund ist eine Erdkugel abgebildet, in deren Umfeld sich zwei schemenhaft angedeutete Menschen aufhalten. Der Begriff Schöpfung wird, auch wegen der gegenwärtigen Herausforderungen des Klimawandels, in Politiker*innenreden gerne bemüht. Ein theologisch stark geformter Topos erhält Einzug in den säkularen öffentlichen Diskurs, was zunächst einmal ein bemerkenswertes Phänomen ist.
Auch der Apostel Paulus entwirft im achten Kapitel seines Römerbriefes eine Schöpfungsvorstellung, die für die römischen Hausgemeinden als historische Adressatinnen eine unerwartete Wendung, vermutlich sogar ein inhaltliches Kippmoment, bereithielt. Aus Schöpfung neu denken wird rasch eine neue Schöpfung denken. Unter Berufung auf ersttestamentliche und frühjüdisch-apokalyptische Schöpfungserzählungen entwickelt Paulus in der Perikope das innovative und ungewöhnliche Bild einer schreienden Schöpfung, die an der Geburt und somit an ihrer eigenen Zukunft mitarbeitet. Stark argumentative und eschatologische Passagen werden durch jene Geburtsmetaphorik unterbrochen und verleihen der Perikope ihren ganz eigenen Charakter.
Was bedeutet Schöpfung für Paulus? Warum verwendet er, um seine eschatologischen Überzeugungen auszudrücken, mit dem Gebären eine weibliche Körpererfahrung?
Paulus zeichnet eine dynamische und anthropomorphe Schöpfung (1), er adaptiert literarische und theologische Motive unterschiedlichster Provenienz und im Bild der schreienden und an der Geburt mitarbeitenden Schöpfung wird der Zusammenhang (2) von Schöpfung und Geburt sowie ihr Verhältnis zur Hoffnung zur Darstellung gebracht. Das Gebären (3) ist als gemeinsame (Geburts-)Arbeit der gesamten Schöpfung an der „Befreiung (Ent-bindung)“ zu interpretieren, und Geburt „als Prozeß [sic!], an dessen Ende Verwandlung [und] Neuschöpfung“ stehen, zu deuten. Das gemeinsame Schreien (4) ist nicht primär Ausdruck von Leid, sondern muss von der Befreiung aus als Ausdruck der Beendigung des Leidens gelesen werden. Via negationis begreift Paulus Hoffnung (5) als den Modus, in dem eine verheißungsvolle Zukunft bereits in der Gegenwart ihre Kraft entfaltet.
Das Plakat bleibt immer nur wenige Sekunden zu sehen und erreicht die vorbeilaufenden Menschen, wenn überhaupt, nur beiläufig. Der Bahnhof ist ein Nicht-Ort, ein Ort des Übergangs: Leute kommen an, reisen ab oder weiter, denn Niemand, so scheint es zumindest, geht in den Bahnhof, um dort zu verweilen. Zudem sind Bahnhöfe, wie ihre Reisenden, von einer ausgeprägten zeitlichen Ordnung bestimmt. Neben dem festen Fahrplan, vielen Anzeigetafeln und öffentlichen Uhren fügen sich die oftmals gestressten Menschen in diese lineare Zeitstruktur ein. Auch das Plakat in der Werbeanzeige gehorcht dieser zeitlichen Ordnung. Geburten sind ebenfalls Praktiken des Übergangs zum Leben. Zudem wohnt ihnen eine Transformationsdynamik und ganz eigene Zeitlichkeit inne. In meiner Arbeit habe ich ausgehend von Römer 8 übergeordnete Fragen zum Phänomen Zeit behandelt: Zeit und Eschatologie bildeten als Themenkomplex den hermeneutischen Rahmen meiner Analyse:
Welches Zeitkonzept entwickelt Paulus in dieser Römerbriefperikope?
Paulus formuliert in seiner Endzeitrede ein ausdifferenziertes Zeitkonzept (2) und entfaltet es auf der Grundlage einer starken Metaphorik und eines reichen temporalen Vokabulars. Damit verleiht er einer verzeitlichten Eschatologie Ausdruck. Das paulinische Zeitkonzept (1) ist von Spuren perfektiver, präsentischer und futurischer Eschatologie durchzogen, die ein Nebeneinander unterschiedlicher Wirklichkeitssphären konstruieren. In Abgrenzung zu Giorgio Agambens Konzept einer messianischen Zeit, das Zeit als objektivierbare Größe gänzlich für obsolet erklärt, habe ich mit dem modularisierten Zeitmodell die Erweiterung der linearen Zeiterfahrung zu zeigen versucht. Zwei konträr anmutende, aber ineinanderlaufen Dimensionen (3) sind für Paulus bedeutsam und erzeugen jene spannungsvolle Konstellation: Auf das Schon jetzt einer angebrochenen Heilszeit bewegt sich ein Noch mehr zu. Dieses Noch mehr verheißt eine Zukunft, in der die gesamte Schöpfung bejaht und mit Gott vereint wird. Mit dem Schon jetzt als eine aus dem Jenseits in das Diesseits hineinragende Kraft (4) beschreibt Paulus nicht eine abstrakte metaphysische Größe, mit der Jetztzeit (vuv kairou) nicht eine unveränderliche Gegenwart. Paulus vermag es, mit seinem Zeitentwurf, und das hat auch der Abgleich und die Diskussion mit zeitgenössischen zeitphilosophischen Betrachtungen gezeigt, „wesentliche Elemente des modernen Zeitempfindens“ aufzufächern (7). Zu denken wäre hier an den Zeitverlust, die Momenthaftigkeit von Zeit oder eine Zeit des Anfangens.
Ich frage zum Abschluss noch einmal: Was bedeutet es, Schöpfung neu zu denken?
In Römer 8,18-25 deutet Paulus mit seiner Geburtsmetaphorik und einem dynamischen Schöpfungsbegriff an, dass erst im Zusammendenken von Wahrheit und Hoffnung substanzielle Antwortversuche auf diese Frage (wieder) möglich scheinen. Wir müssen gegenwärtige Realitäten anerkennen, uns in widerständiger Geduld üben und Verantwortung übernehmen, denn „wir können es uns nicht leisten, das, was wir tun und sein können, auf eine Zukunft verlagern. Die Bewährungsprobe findet im Jetzt statt […]“. Hoffnungslosigkeit ist dabei, wie Dorothee Sölle schreibt, zu einem Luxusgut geworden, „das sich heute niemand mehr leisten kann“. Nur im Verbund führen Hoffnung und Wahrheit samt jener „Sehnsucht nach der Nähe Gottes […] zum befreienden Handeln, zur Praxis der Veränderung“, die eine Umkehr zur (neuen) Schöpfung und zum Leben ermöglichen.